Wohltaten sind nicht einfach Dinge, mit denen ich selbst mir etwas Gutes tue. Von der ursprünglichen Bedeutung her ist eine Wohltat „etwas Gutes, das jemand für jemanden tut“. So lautet die Worterklärung, und das bedeutet: Hinter dem, was uns hier wohltut, steht jemand, der mir wohl will.
Pater Kentenich spricht von Wohltaten Gottes. Die Barmherzigkeit Gottes wird für uns fühlbar in so vielem, was er uns alltäglich schenkt. Entscheidend ist, dass wir ein Gespür dafür entwickeln und lernen, seine Geschenke „persönlich“ zu nehmen.
Überraschungen der Liebe Gottes
Eine junge Frau kam in einem totalitären Staat – zusammen mit anderen – wegen ihrer religiösen Arbeit ins Gefängnis. Sie kannten Pater Kentenich und hatten durch ihn gelernt, fest und schlicht an die Liebe des Vatergottes zu glauben. Diesen Glauben verloren sie auch in der harten Zeit der Inhaftierung nicht. Im Gegenteil, sie schöpften daraus die Kraft, ungebrochen die Torturen der kommunistischen Machthaber zu überstehen.
Diese Frau erzählte später, im Gefängnis habe sie eine seltene Kunst gelernt: sich auf Kleinigkeiten zu konzentrieren und sie als Überraschungen der Liebe Gottes wahrzunehmen. Sie sagt: „Dass ich diese Kunst kenne, dafür musste ich ins Gefängnis gehen. Ich habe früher auch nur auf Großes reagiert. Mein Leben war eine Selbstverständlichkeit. Alles war selbstverständlich.“ Doch das Gefängnis hat ihre Optik verändert, sie lernte Kleinigkeiten zu entdecken: Im Gefängnis sahen sie nur graue Mauern. An einem Tag kam ein Vogel. „Seitdem liebe ich Vögel.“ Ein andermal, als sie mit etwa 900 Gefangenen im großen Hof herumgeführt wurde – „nur graue Mauern, grau nimmt alle Freude“ –, hat sie „auf einmal ein Stück grünes Gras gesehen. Es war so schön. Dort schätzt man diese Sachen“. Im Gefängnis gab es keine Türklinken. Seither ist „jede Türklinke ... ein Geschenk“, jede Türklinke „ist für mich ein Zeichen der Freiheit“.
Winzige Kleinigkeiten. Aber, so sagt sie: „Jede Kleinigkeit ist Liebe, überall sind Spuren der Liebe Gottes.“ Sie fügt hinzu: „Nur wenn wir die kleinen Beweise sehen, können wir uns glücklich weiterentwickeln.“
Wer in Kleinigkeiten Überraschungen der Liebe Gottes entdeckt, der fürchtet sich nicht ständig vor „bösen Überraschungen“, die Gott ihm zumuten könnte. Gerade durch diese kleinen immer neuen Erfahrungen wächst ein Urvertrauen in die Güte Gottes. Wir müssen uns ein „Organ schaffen, um die Wohltaten Gottes wirklich zu erfassen, und wenn es Kleinigkeiten und kleinste Wohltaten sind!“, so sagt Pater Kentenich.
Eine Frau erzählte, ihr Enkel sei schon als Vierjähriger von seinen Eltern auf weite Reisen mitgenommen worden, habe viel gesehen und erlebt. Als sie ihn einmal nach einer solchen Reise fragte: „Was hat dir diesmal am besten gefallen?“, antwortete der Kleine: „Eigentlich nichts, es ist immer das Gleiche.“
Demgegenüber berichtet ein Vater, er habe mit seinen Kindern einen Ausflug gemacht. Abends fragte er dann: Was hat euch am besten gefallen? – Der Älteste sagte: die Schifffahrt, die Kleine sagte: die Ziegen. Sein sechsjähriger Sohn sagte im Moment nichts, er überlegte angestrengt. Auf einmal strahlte er seinen Papa an und sagte: „Papa, mir gefällt eigentlich alles, die ganze Welt!“ Es ist auch eine Kunst, das konkrete Schöne zu sehen. Ein Zuviel an Eindrücken kann unsere Augen blenden, dass wir nichts mehr wahrnehmen.
Deshalb ist es wichtig, wach zu sein, in welchen Augenblicken Gott für uns persönlich eine „Überraschung der Liebe“ verbirgt. Das braucht Zeit und Besinnlichkeit.
Ein Kreis junger Frauen sitzt am Abend zusammen. Sie haben eine besondere Art, sich ohne viel Aufwand gegenseitig zu beschenken: Jede erzählt etwas, was für sie in letzter Zeit schön war. „Für mich ist es immer besonders schön, das Spiel der Farben in der Natur anzuschauen“, erzählt eine Studentin. „Ich wohne nah an einem See. Manchmal sitze ich einfach da und bestaune das Farbspiel, wie die Tönung des Wassers durch den Sonnenlauf wechselt, wie sich die Bäume im Wasser spiegeln, wie der Wind das Wasser kräuselt. Vor kurzem kam nach einem starken Regen plötzlich die Sonne, und es entstand ein wunderbarer Regenbogen. In mir kam ein Staunen hoch, was man aus Wasser und Licht machen kann. Ich war fasziniert: Wie groß muss jemand sein, der aus so einfachen Dingen so etwas Wunderbares entstehen lassen kann. Und ich habe in den Regenbogen geschaut, und auf einmal ist in mir eine ganz große Freude an diesem Gott wach geworden, der so etwas kann.“
Die Liebe Gottes erleben wir nicht nur durch Wohltaten, mit denen er uns selbst beschenkt. Oft sind es Wohltaten, die er durch uns schenkt, die uns reich machen. Manchmal ist das, was wie ein ärgerlicher Zwischenfall aussieht, ein Werben Gottes, anderen wohl zu tun. Dazu ein Erlebnis an einem kalten Dezembertag: Zwei junge Frauen sind per Bahn auf der Rückreise von einem Tagesausflug. In ihrem Großraumwagen entsteht Unruhe: Der Kartenkontrolleur erklärt einer irakischen Frau mit drei Mädchen, sie dürfe den Zug nicht nutzen, die Fahrkarte gelte erst übermorgen. Trotz intensiver Bitten – die Fahrkarte ist ja bezahlt – muss die Frau ein neues Ticket lösen. Damit scheint der Fall erledigt. Die Mutter mit den drei Mädchen steigt am selben Bahnhof aus wie die jungen Frauen. Die laufen nun so schnell als möglich zu ihrem Anschlusszug. Leider kommen sie eine Minute zu spät, der Zug fährt gerade ab, als sie den Bahnsteig erreichen. Eine ärgerliche Situation: Es ist ein kalter Abend, Schneeeinbruch, und die Bahnhofshalle wirkt nicht einladend. Die beiden rufen zu Hause an, um sich abholen zu lassen, müssen dann aber einige Zeit warten. Da kommt die Mutter mit den drei Mädchen auf sie zu: Sie erfahren, dass es sich um eine Asylantenfamilie handelt. Die Frau hat fast ihr ganzes Geld für die nachgeforderte Fahrkarte im Zug ausgegeben. Sie müssen aber zu ihrem Aufenthaltsort noch etwa zwei Stunden weiterfahren. Auch am Bahnhofsschalter hat man sich geweigert, die Fahrkarte vorzudatieren. Nun fehlen ihr genau 30 Euro, um eine neue Karte zu kaufen. Die jüngste Tochter, etwa acht Jahre, ist sichtlich erschöpft und hungrig.
Die beiden Frauen zögern nicht lange. Sie besorgen die Fahrkarte, geben der Mutter noch Geld, um den Kindern etwas Essen zu kaufen, und ein paar Süßigkeiten, die sie in der Tasche haben. Die Mutter und die drei Mädchen sind überaus dankbar. Als die beiden kurz darauf im warmen Auto sitzen, das sie heimbringt, meint die eine: „Weißt du jetzt, warum wir den Zug verpassen mussten?“ Die andere versteht sofort und beide sind glücklich über diese Erfahrung. Wer offenen Herzens anderen eine Wohltat bereitet, wird auch selbst reicher.
Wenn wir uns angewöhnen, jeden Tag wenigstens eine Wohltat Gottes wahrzunehmen, dann kommt langsam, aber tiefgehend die Gewissheit in unser Lebensgefühl, dass Gott uns wohl will, dass er gut zu uns ist. Mit den Jahren tragen wir dann im Gedächtnis unseres Herzens „eine Unsumme von Kleinigkeiten, eine endlos lange Kette von Wohltaten und Erbarmungen“ (J. Kentenich). Wenn Gott uns dann manches Schwere abverlangt, helfen uns diese Erfahrungen, auch jetzt seiner Güte zu vertrauen.
Beginnen wir noch heute damit, ganz bewusst die kleinen Überraschungen der Liebe Gottes wahrzunehmen – mit heller Freude, mit wachen Augen.
© Sekretariat Pater Kentenich