Pater Josef Kentenich Portraits

Tunnelerfahrungen

Pater Kentenich verweist in dem Wort, das auf dieser Spruchkarte zu finden ist, auf etwas, was wir alle ständig erleben: Wir stoßen an unsere Grenzen. Charakterlich: die einen rasten immer wieder aus, andere drücken Enttäuschungen in sich hinein und werden seelisch belastet, wieder andere flüchten bei Versagen in Aktivität oder Traumwelten. Auch kräftemäßig kommen wir an Grenzen. Pater Kentenich nennt das Extrem des „persönlichen Zusammenbruchs“, eine körperliche oder geistige Erschöpfung. Hinzu kommt manches, was in unserem Leben schiefläuft.

Solche Erfahrungen sind vergleichbar einer Fahrt durch den Tunnel. Pater Kentenich selbst bringt in dem Zusammenhang das Wort vom „Tunnel“, durch den Gott uns immer wieder hindurchführt. In einem Tunnel sind wir vom Tageslicht abgeschnitten, eingeengt. Es geht nur geradeaus. Wir müssen vertrauen, dass es am Ende tatsächlich ins Freie geht, denn im Tunnel kann man nicht wenden und zurückfahren.

Wozu die Tunnel?

Tunnel werden da geschlagen, wo der Weg durch die freie Landschaft nicht möglich ist, zum Beispiel durch einen Berg. Die Fahrt durch einen solchen Tunnel mag nicht angenehm sein, sie bringt uns aber durch den Berg hindurch. Nicht selten tut sich dann eine neue Perspektive, ein neues Panorama auf.

Das kann ein Bild dafür sein, was Pater Kentenich „einen ganz besonderen Liebesweg Gottes“ nennt: Wo wir Grenzerfahrungen in der richtigen Weise annehmen und durchleben (Fahrt durch den Tunnel), da bringen sie uns voran. Sie eröffnen uns eine neue Sicht.

Gott lässt uns nicht deshalb unsere Erbärmlichkeiten, um uns „klein zu halten“, wie manche meinen. Er will uns dadurch vor einer Lebenshaltung bewahren, an der wir unweigerlich scheitern müssen, scheitern als Einzelne, aber auch als Menschheit. Es ist die Lebenshaltung, das Lebensgefühl: Wir haben alles im Griff.

Wie irrig diese Haltung ist, erleben wir gegenwärtig deutlich: Die menschlichen Möglichkeiten mögen ins Geniale anwachsen – immer wieder bleibt am Ende die Ohnmacht zerstörerischen Faktoren gegenüber. In einem Artikel vom 28.2.2016 titelte Spiegel online: „Die Welt wird ärmer. Radikaler. Undemokratischer. Autokraten herrschen brutaler, religiöse Fanatiker sind auf dem Vormarsch, wirtschaftlicher Aufschwung hilft nicht gegen Armut: Eine Studie der Bertelsmann Stiftung sieht die Welt in einer gefährlichen Schieflage.“ Es ist eine Schieflage, die menschengemacht ist.

Gesellschaft der Angst

So heißt ein Bestseller des deut­schen Soziologen Heinz Bude. Er beschreibt die Angst als ein ständiges „Hintergrund­rauschen“ unse­res Lebensgefühls. Es ist vor allem die Angst, Fehler zu machen, wobei die Welt immer unkontrollierbarer erscheint. Bude nennt als ein Beispiel das Geld- und Finanzsystem, das uns Angst macht: „Es ist die Angst, dass niemand diesen Prozess beherrscht, weil alle daran beteiligt sind und alle sich jeweils etwas Eigenes davon versprechen“, so Bude.

Die Reaktion: Der Einzelne versucht, möglichst alle Bereiche seines Lebens perfekt im Griff zu haben. Da das aber nicht klappt, steht am Ende bei immer mehr Menschen die Depression.

Ganz ähnlich beschreibt es der Philosoph Byung-Chul Han in seinem Bestseller „Müdigkeitsgesellschaft“.

Auf dem Hintergrund solcher Entwicklungen wird deutlich, was Pater Kentenich meint, wenn er sagt: „Wir müssen auch unsere persönlichen Erbärmlichkeitserfahrungen auffassen als einen ganz besonderen Liebesweg Gottes.“ Solche Erfahrungen zeigen uns nicht nur realistisch die Grenzen menschlicher Möglichkeiten (das Dunkel und die Enge des Tunnels), sie können uns auch weiterleiten zu einer Durchbruchserfahrung: Am Ende des Tunnels wartet der auf uns, der die Macht, Weisheit und Güte hat, tatsächlich alles zum Guten zu lenken. Wir sollten, sagt Pater Kentenich, unsere Erbärmlichkeiten nicht als Mangelerscheinung sehen, sondern als grundlegende Offenheit für die Güte Gottes. Und das ist keine Demütigung, sondern lässt uns wachsen und dem Leben souveräner begegnen.

Der Papa und ich machen das schon“

Mit diesem Kommentar reagiert der fünfjährige Max, als seine Mama mit einem Platten im Fahrradreifen nach Hause kommt. Es ist klar, wer dann beim Flicken des Reifens die entscheidende Rolle spielt. Aber Max erlebt das anders: Ohne ihn hätte der Papa das nicht geschafft. Max kann Reifen flicken, natürlich mit dem Papa im Team. Und wie froh ist der Papa, dass er den Max hat!

Ein alltägliches Bild aus dem Leben, das sich auch auf uns als Erwachsene anwenden lässt: Gott will, dass wir uns entfalten, dass wir unsere Größe erleben und uns an unseren Möglichkeiten freuen. Aber gerade deshalb ist es ihm wichtig, dass wir realistisch anerkennen: Ich bin für vieles zu schwach. Das heutige Leben ist unkontrollierbar. Perfektionismus ist nicht der richtige Weg. Diese nüchterne Selbsteinschätzung lernen wir durch Erbärmlichkeitserfahrungen. Dann kommt es darauf an, den richtigen Schritt zu tun: Uns da, wo wir überfordert sind, mit Gott zu verbinden, mit seiner Macht, seiner Weisheit, seinen Möglichkeiten. Er ist ständig bereit, für uns da zu sein als guter Vater. Es macht ihm Freude, uns in der Beziehung zu ihm immer neue Wachstumsmöglichkeiten zu eröffnen.

Das biblische Wort dafür ist: Barmherzigkeit. Wo Gott sich uns erbarmend zuwendet, weil wir ihm mit unseren Schwächen entgegenkommen, werden wir nicht klein gemacht, sondern entfalten uns in unseren Fähigkeiten. Das ist

Die bessere Alternative

zur Angstgesellschaft. Es bringt ein Mehr an Lebensqualität. Die Philosophin Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz beschreibt auf originelle Weise, worin dieses „Mehr“ im Vergleich zu einer perfektionistischen Lebenshaltung besteht. Sie sagt, Perfektionismus ist langweilig. Wer „perfekt“ arbeitet, bei dem muss alles so laufen, wie er es plant. Das bedeutet aber: „Man trifft darin nur noch auf das, was man selbst gemacht hat“ (H-B. Gerl-Falkovitz).Wenn wir dagegen lernen, uns immer neu mit Gottes Möglichkeiten zu verbinden – gerade da, wo wir selbst an Grenzen stoßen – wird viel mehr daraus, als wir selbst zustande gebracht hätten. Dann werden wir immer wieder darüber staunen, was mit unseren schwachen Kräften möglich ist. „Und diese Überraschung ist gerade nicht langweilig“ (H-B. Gerl-Falkovitz).

Pater Kentenich hat aus dieser Einsicht heraus sein ganzes Wirken geprägt. Er spricht vom „Gesetz der schöpferischen Resultante“: Wo bei menschlicher Begrenztheit und großen Schwierigkeiten etwas Großes möglich wird, ist Gottes Barmherzigkeit am Werk. Wo das der Fall ist, hat eine Sache Zukunft. Das war das Geheimnis von Pater Kentenichs optimistischer Lebenshaltung: Sobald wir uns in unserer Erbärmlichkeit mit Gott verbinden, schenkt er seine Kraft. Dann sind wir stärker. Wichtig ist, dass wir seiner Liebe glauben. „Deswegen: Er mag mich! Ob er mir seine Erbarmungen schenkt oder ob er mich meine Erbärmlichkeiten erleben lässt, oder ob er mit Schicksalsschlägen mein Leben hin- und herwirft. Hinter allem steckt seine Liebe“ (J. Kentenich)

© Sekretariat Pater Josef Kentenich, Schönstatt