„Nehmen Sie sich die Zeit, sich eine Barmherzigkeitslitanei zu schaffen.
Aber nicht flüchtig, betriebsmäßig, sondern wir müssen uns hineinfühlen, hineinleben,
damit unser Lebensgefühl umgewandelt wird,
damit wir so stark das Bewusstsein bekommen:Ich bin der Augapfel Gottes (vgl. Jes 43.4).“
(J. Kentenich)
Der Jahreswechsel ist für die meisten von uns ein mehr oder weniger willkommener Anlass, das eigene Leben nochmals „auf die Reihe“ zu bringen das heißt die persönliche Route neu zu navigieren. Durch das Jahr der Barmherzigkeit ist uns ein Impuls gegeben, der den besonderen Segen eines Heiligen Jahres mit sich bringt. Die Chancen, dass sich etwas in unserem Leben zum Besseren wenden kann, sind damit höher als zu anderen Zeiten.
Das Wort Pater Kentenichs, das über diesem ersten Monat des neuen Jahres steht, stammt aus einem Exerzitienkurs für Priester zum Grundgedanken „Vollkommene Lebensfreude“.
Selbstbewertungsbewusstsein – darauf kommt es an
Pater Kentenich gibt dort den Zuhörern zunächst eine Zeitdiagnostik. Er zeigt auf, wie der Mensch in seiner Würde vielfach entwertet wird und sagt dann:
„Der heutige Mensch muss wieder ein Selbstbewertungsbewusstsein bekommen. Und wie bekommt er das? Er muss sich geliebt fühlen. Wer sich geliebt fühlt, fühlt sich geschätzt, und in dem wächst ein gesundes Selbstbewertungsbewusstsein. Und wo dieses am Werden ist - ich darf Ihnen sagen, da ist der Boden vorbereitet für die Überwindung der größten seelischen Schwierigkeiten, Versuchungen und Sünden. Deswegen: Zeigen Sie einmal einem Menschen, der so ganz schwer und tief und tiefer gefallen ist, zeigen Sie ihm, dass Sie ihn gern haben; nicht durch Liebeserklärungen, sondern durch die Tat! Das wirkt mehr als viele Vorträge. Es hängt viel davon ab. Alles.“ (11.10.1934)
Weiterhin weist Pater Kentenich darauf hin: Auch Gott geht in seiner Beziehung zu uns diesen Weg. Er will uns gewinnen durch eine Vielzahl persönlicher Liebesbeweise. Unser Selbstwertbewusstsein kann in dem Maß wachsen, als wir uns dieser persönlichen Liebe Gottes bewusst werden, uns ein „Organ schaffen, um die Wohltaten Gottes wirklich zu erfassen, und wenn es Kleinigkeiten und kleinste Wohltaten sind!“ (11.10.1934)
Wir sollten uns „mit Sorgfalt“ bewusst werden, wie Gott uns individuell „mit Wohltaten ausstattet“, so sagt Pater Kentenich, und erklärt weiter:
„Wenn ich erkenne, dass Gott mir einen klaren Verstand gegeben hat, warum hänge ich dann so stark an meiner Gemütsarmut, warum bin ich so kompliziert in meinem Gemüt und schaue nicht viel lieber auf den klaren Verstand? Schauen Sie, das ist Ihre Aufgabe, die kann ich nicht lösen.“ (11.10.1934)
Zunächst meine Stärken sehen und dafür dankbar sein, statt über meine Defizite zu klagen. Dies ist ein Impuls, der uns in diesem Neuen Jahr in unserem Selbstwertgefühl weiterbringen kann. Jede Stärke ist eine Wohltat Gottes, mit der er mich beschenkt.
Pater Kentenich zielt aber auf mehr: Es geht ihm um einen positiven Umgang mit den eigenen Grenzerfahrungen und Schwächen. So sagt er weiter:
„Keppler hat seinerzeit, als er sein Bischofsjubiläum feierte, am Schluss vor seinen Klerikern gesprochen: ‚Wenn ich in mein Leben zurückschaue, so ist es ein großer Wettlauf zwischen göttlicher Barmherzigkeit und menschlicher Armseligkeit.‘ - Wettlauf mit der göttlichen Barmherzigkeit. Nehmen Sie sich die Zeit, wenn ich so sagen darf, sich eine Barmherzigkeitslitanei zu schaffen … Aber nicht flüchtig, betriebsmäßig, sondern wir müssen uns hineinfühlen, hineinleben, damit unser Lebensgefühl umgewandelt wird, damit wir so stark das Bewusstsein bekommen: Ich bin der Augapfel Gottes.“ (11.10.1934)
Was Pater Kentenich hier empfiehlt, ist der „Dreh“, der unser Lebensgefühl grundlegend wandeln kann. Wir können lernen, unsere Schwächen anzunehmen als eine Art „Gnadenpunkt“, an dem Gott besondere Geschenke für unser Leben festmacht. Pater Kentenich fasst das in Kepplers Wort vom „Wettlauf zwischen göttlicher Barmherzigkeit und menschlicher Armseligkeit“.
Was damit gemeint ist, das lässt sich an Pater Kentenichs eigener Lebensgeschichte ablesen: Wichtige Einschnitte für seine Persönlichkeitsentwicklung und seine Gründertätigkeit waren zunächst starke Armseligkeitserfahrungen. Nur einige Beispiele dafür:
Als kleines Kind von acht Jahren sieht sich seine Mutter gezwungen, ihn für mehrere Jahre in ein Waisenhaus zu bringen. Sie muss allein für seinen Lebensunterhalt sorgen und kann den kleinen Josef nicht zu ihrer neuen Anstellung in einer Familie mitnehmen. Der Augenblick, als sie ihn in Oberhausen im Waisenhaus zurücklassen muss, ist für beide überaus schmerzlich. Dies wird aber zu einer der wichtigsten Gnadenstunden für den Achtjährigen: Die Mutter weiht ihn der Gottesmutter und er vollzieht die Weihe tief mit. Dieser Augenblick wird zu einer Schlüsselerfahrung für sein ganzes weiteres Leben.
Ein Wettlauf zwischen menschlicher Armseligkeit und göttlicher Erbarmung, das lässt sich auch in der weiteren Lebensgeschichte beobachten: Der junge, sehr begabte Pater Kentenich unterrichtet als Lehrer erfolgreich im Internat der Pallottiner. Da wird er auf einmal in aller Eile zum geistlichen Mentor („Spiritual“) der Schüler ernannt, sozusagen als „letzter Versuch“. Denn im Internat ist wegen der strengen Ordnung eine regelrechte Revolte ausgebrochen, zwei Patres haben sehr schnell nacheinander die Aufgabe wegen der großen Schwierigkeiten niedergelegt. Alles das gibt dem Neuanfang denkbar ungünstige Vorzeichen. Aber auch diese schwere Situation wird für ihn zu einer Gnadenstunde: Er kann die Schüler gewinnen, mit ihm einen neuen Weg zu beginnen. Zwei Jahre später beginnt in diesem Kreis die Schönstattbewegung durch das Liebesbündnis vom 18. Oktober 1914.
Doch auch dieser Neuanfang ist wieder von einer massiven Grenzerfahrung überschattet: Kurz vor der Gründung bricht der erste Weltkrieg aus. Wie soll Pater Kentenich nun die Führung und Erziehung der jungen Männer weiterpflegen? Sie werden aus der Gesichertheit des Internates nach und nach zum Kriegsdienst eingezogen und an die Fronten geschickt. Auch hier zeigt sich der „Wettlauf“ göttlicher Erbarmung: Das Leben an der Front intensiviert den Zusammenhalt, und der kleine, auf das Internat beschränkte Kreis weitet sich aus auf andere junge Männer, dann sogar auf Frauen. So entfaltet sich ein vielfältiges Werk.
Es gäbe eine Fülle von Beispielen, wie Pater Kentenich Erfahrungen eigener Grenze immer wieder als „Wettlauf“ mit der Barmherzigkeit Gottes verstand und sich bemühte, Gott in solchen Situationen Raum zu geben, damit er seine Pläne verwirklichen kann.
Wenn Pater Kentenich rät, eine Barmherzigkeitslitanei aufzustellen, dann meint er damit selbstverständlich als Grundübung: Wir sollen wahrnehmen, mit welchen Fähigkeiten und guten Seiten uns Gott aus reiner Güte beschenkt hat. Jeder Mensch hat Stärken. Es ist ein Akt der Dankbarkeit, diese als Liebesgabe Gottes wahrzunehmen.
Aber die Barmherzigkeitslitanei umgreift eben auch unsere Schwächen. Das ist gemeint, wenn Pater Kentenich vom „Wettlauf mit der göttlichen Barmherzigkeit“ spricht.
Wir sollen wahrnehmen, wie Gott Grenzen unserer Persönlichkeit (unsere Fehler und Schwächen) und Grenzsituationen (ungünstige Verhältnisse) zu „Gnadenpunkten“ werden lässt, an denen er uns wichtige Weichenstellungen gibt und ganz besondere Geschenke macht. Dann werden unsere Grenzerfahrungen nicht zum Schaden für unser Selbstwertgefühl, sondern verstärken es sogar aus dem Bewusstsein: Ich bin kostbar in den Augen Gottes. Gott braucht mich genau in der Art, wie ich bin.
Das Heilige Jahr der Barmherzigkeit ist eine Hohe Schule unseres Selbstwertgefühls: Statt unsere Grenzen und Schwächen zu umgehen, sollen wir damit umgehen lernen. Das geschieht in dem Maß, als wir lernen, uns mit offenem Herzen Gott als gütigem Vater zu überlassen. Er sieht uns groß und will uns entfalten, er hat Freude an unserem Wachstum und gleicht unsere Schwächen aus.
Beginnen wir also dieses Neue Jahr mit echtem „Sportsgeist“ – wagen wir den Wettlauf mit dem Gott der Barmherzigkeit!