Am Heiligen Abend 1965 gegen 18.00 Uhr wird das Urheiligtum in Schönstatt zum Ort einer geschichtlichen Stunde: Pater Kentenich, der Gründer der internationalen Schönstatt-Bewegung, kehrt nach 14 Jahren an den Ort zurück, wo Schönstatt angefangen hat.
Diese lange Abwesenheit war von ihm nicht frei gewählt. Sie wurde verfügt von der obersten römischen Kongregation, dem Heiligen Offizium.
Pater Kentenich selbst hatte auf die Verfügung ganz ruhig reagiert. Er hatte eine Prüfung durch die Kirche erbeten, diese sogar herausgefordert. Auch wenn er nicht mit einer solch massiven Maßnahme gerechnet hatte: Es war sein Herzenswunsch, die Kirche möge sein Werk prüfen und annehmen. Mit Blick in die Kirchengeschichte sah er, dass viele neuartige Gründungen ähnliche Feuerproben durchzustehen hatten.
Der Theologe Hans Urs von Balthasar schreibt: „Es gibt Sendungen, die wie Blitze vom Himmel herab in die Kirche geschleudert werden, die einen einmaligen und eindeutigen Willen Gottes mit seiner Kirche zur Darstellung bringen müssen. Es gibt auf der anderen Seite Sendungen, die aus dem Schoß der Kirche und der Gemeinde, aus der Gemeinschaft der Orden emporwachsen und durch ihre Reinheit und Konsequenz den anderen zum Vorbild werden.“ (Hans Urs von Balthasar, Therese von Lisieux. Geschichte einer Sendung, Köln 1950, S.17.) Es liegt auf der Hand, dass Sendungen, die der Heilige Geist wie Blitze in die Kirche hineinwirft, zunächst fremd und erschreckend wirken. Sie müssen in der Regel harte Prüfungen durchmachen, ehe sie als geistgewirkt anerkannt werden.
Der Gründer der Jesuiten, Ignatius von Loyola, kam nicht weniger als neunmal vor die Inquisition*. Er wurde zwischenzeitlich sogar inhaftiert.
Josef von Calasanza, der Gründer der Piaristen, war zunächst von Papst Urban VIII. auf Lebenszeit zum General seiner Gründung bestimmt worden. Zehn Jahre später wurde er infolge von Anklagen abgesetzt. Später erwiesen sie sich als Intrigen.
Teresa von Avila musste mehrere Jahre eine zermürbende Prüfung durch die Inquisition über sich ergehen lassen, bis ihr damals ungewöhnlicher geistlicher Weg anerkannt wurde. Später wurde sie als erste Frau zur Kirchenlehrerin erhoben.
Mary Ward wurde wegen ihrer neuartigen Gründung neun Wochen als Ketzerin inhaftiert. Das Inquisitionsgericht endete zwar mit ihrer Rechtfertigung, aber ihre Gründung war und blieb aufgelöst. Erst gut 50 Jahre nach ihrem Tod wurde das von ihr gegründete Institut der „Englischen Fräulein“ von der Kirche anerkannt. Es dauerte dann noch fast 200 Jahre, bis der Papst erlaubte, Mary Ward als dessen Stifterin zu bezeichnen.
Sendungen, die Blitzen des Heiligen Geistes gleichen, wirken auf die Kirche oft widersprüchlich, schreibt Hans Urs von Balthasar. Sie durchkreuzen Bisheriges. Es kostet viele Kämpfe, bis sie akzeptiert werden. Doch diese sind nötig, weil der Heilige Geist gerade dadurch die Kirche auf neue Wege weist.
Nicht zuletzt die Art, wie Gründerpersönlichkeiten solche Prüfungen annehmen und geistlich auswerten, ist für die Kirche ein Kriterium für die authentische Christusnachfolge. Immer wieder zitierte Pater Kentenich in diesen Jahren das Wort des Auferstandenen an die Emmausjünger, es war ihm offensichtlich Licht in seiner eigenen Lage: „Musste nicht der Messias all das erleiden, um so in seine Herrlichkeit zu gelangen?“ (Lk 24,26).
Als Papst Franziskus die Schönstatt-Bewegung anlässlich ihres 100jährigen Bestehens im Oktober 2014 zu einer großen Audienz empfing, sagte er, er sei beeindruckt von Pater Kentenichs Haltung im Blick auf „das Unverständnis, das Pater Kentenich erleiden musste, und die Ablehnung. Das ist ein Zeichen dafür, dass ein Christ vorangeht, wenn der Herr ihn die Prüfung der Ablehnung erleiden lässt. Denn das ist das Zeichen der Propheten“. Und noch einmal bekräftigte er, die wahre Größe zeige sich darin, wie diese Prüfung angenommen wird: „Die Ablehnung, das ist es, nicht wahr? Hier kommt dann das Aushalten. Aushalten im Leben bis dahin, zur Seite gelegt zu werden, abgelehnt, und ohne sich mit Worten, mit Verleumdung, mit Diffamierung zu rächen“ (Papst Franziskus, Audienz für die internationale Schönstatt-Bewegung, 25.10.2014).
Man mag sich fragen, woher Pater Kentenich die Kraft zu einer solchen Einstellung nahm. Aufschluss gibt ein Selbstzeugnis, das er einem engen Vertrauten in Milwaukee gab. Bei einem Spaziergang kamen sie auf die großen Schwierigkeiten zu sprechen, die man ihm und seinem Werk in den Weg legte. Pater Kentenich sei immer besinnlicher geworden und habe immer weniger gesprochen. Es war zu spüren, dass er manche Stationen seines Leidensweges noch einmal nacherlebte. Dann sagte er: „Aber das hat mich nie abgebracht von dem Glauben an meine Sendung. Ich bin immer weitergegangen, ich habe ganz selbstverständlich angenommen, das gehört einfach dazu“. Und schließlich: „Das ist ja alles unverständlich, das wäre unbegreiflich ohne ein unermesslich tiefes Gotteserlebnis.“
Ein unermesslich tiefes Gotteserlebnis. Pater Kentenich hatte in der Person der Gottesmutter so tief die Vatergüte Gottes erlebt, er hatte sich im Liebesbündnis vom 18. Oktober 1914 so persönlich von ihr angenommen erlebt, dass alles für ihn ein anderes Vorzeichen hatte. So sah er in den 14 Jahren der Prüfung vor allem Gott als den großen Erzieher und Führer. Von ihm ließ er sich den Weg weisen. Er überschritt nicht die Grenzen, die Gott ihm zog. Er ließ sich von oben bestimmen und machte sich abhängig von den Türen, die Gott ihm öffnete. Er konnte warten. Und er durfte erleben, wie der Geist Gottes am Wirken ist.
Als Johannes XXIII. 1962 das II. Vatikanische Konzil eröffnete, zeichnete sich in der katholischen Kirche eine große Wende ab. Manches, was an der Schönstattbewegung fremd oder unverständlich wirkte, kam jetzt in anderes Licht durch das, was die Konzilsväter tastend als neues Kirchenbild erkannten. Was das Konzil nun als Anruf des Heiligen Geistes durch die Zeitenstimmen wahrnahm, das hatte Pater Kentenich schon lange vorher signalisiert und durch seine Gründung darauf reagiert. Das Klima im Blick auf Pater Kentenich und die Schönstattbewegung änderte sich. Ein wesentlicher Vordenker des Konzils, Kardinal Augustin Bea, äußerte Pater Kentenich gegenüber: “Ohne das Konzil wären Sie nie verstanden worden!“
Im Juni 1965 wurde mit Kardinal Ottaviani, dem Sekretär des Heiligen Offiziums, vereinbart, dass man Pater Kentenich im Lauf des Oktober 1965 nach Rom holen wolle, um in unmittelbaren Gesprächen eine Bereinigung der Fragen zu erreichen. Pater Kentenich wurde gebeten, Unterlagen dafür vorzubereiten, was er auch tat.
Am 13. September 1965 wurde Pater Kentenich in Milwaukee telefonisch ein Telegramm übermittelt, das ihn aufforderte, sofort nach Rom zu kommen. Er leistete dieser Aufforderung so schnell wie möglich Folge und traf am 17. September in Rom ein. Dort stellte sich heraus, dass niemand das Telegramm abgeschickt hatte. Umfangreiche Nachforschungen über den Ursprung des Telegramms blieben erfolglos.
Alles sah so aus, als sei Pater Kentenich auf eigene Initiative nach Rom gereist. Die Kardinäle des Heiligen Offiziums schienen bei ihrer Vollversammlung am 24. September 1965 nicht daran vorbeizukommen, Pater Kentenich deshalb wieder in die USA zurückzuschicken. Kardinal Bea suchte daraufhin das Gespräch mit Pater Kentenich. Um wenigstens einen Aufschub der Reise zu erreichen, „suchte er diesem das Geständnis abzuringen, er fühle sich ob seines hohen Alters gesundheitlich nicht in der Lage, in so kurzer Zeit eine zweite Reise über den Atlantik zu machen“ (E. Monnerjahn, Pater Josef Kentenich, Vallendar-Schönstatt 1975, S. 304). Pater Kentenich aber entgegnete, er fühle sich durchaus in der Lage, wenn das Heilige Offizium das beschließen würde. Kardinal Bea war davon sehr beeindruckt. Er äußerte, der Gründer Schönstatts sei ein Mann des unbedingten Gehorsams, und setzte sich nach Kräften für ihn ein. Pater Kentenich selbst blieb in diesen spannungsreichen Wochen ganz ruhig. Er äußerte, er sehe in den unerwarteten Turbulenzen die Erfüllung seiner Bitte an die Gottesmutter, sie möge deutlich zeigen, dass sie seinen „Fall“ lösen will und kann.
Am 20. Oktober 1965 fällt die Vollversammlung der Kardinäle des Heiligen Offiziums den entscheidenden Beschluss: Pater Kentenichs Akte soll vom Heiligen Offizium ohne jede Auflage an die Religiosenkongregation gehen. Am 22. Oktober bestätigt Papst Paul VI. diese Entscheidung. Damit war Pater Kentenich frei und konnte zu seinem Werk zurückkehren.
Es waren auf den Tag genau 14 Jahre seit jenem 22. Oktober 1951, an dem Pater Kentenich auf Verfügung des Apostolischen Visitators Pater Sebastian Tromp Schönstatt verlassen hatte. So endete ein spannendes Kapitel der neuen Kirchengeschichte.
Am 22. Dezember 1965 empfing Papst Paul VI. den Gründer Schönstatts bei einer Audienz. Pater Kentenich dankte dem Heiligen Vater und versprach ihm, die Schönstattbewegung werde nach Kräften mitwirken, dass das Konzil sich fruchtbar auswirkt und die Kirche so ihre Sendung für die heutige Welt erfüllen kann.
Am Heiligen Abend 1965 kehrte Pater Kentenich nach 14 Jahren nach Schönstatt zurück.
In diesem Augenblick war es ihm nicht wichtig, was er selbst und seine Mitarbeiter an Prüfungen durchgemacht hatten. Schon in Rom hatte er deutlich zum Ausdruck gebracht, was er aus dieser schweren Prüfungszeit im Gedächtnis behalten will: Am 23. November 1965 hatte Kardinal Antoniutti ihm in einem Gespräch gesagt: „Vergessen wir die Vergangenheit.“ Pater Kentenich hatte ihm darauf geantwortet: Kreuz und Leid, Ungerechtigkeiten und dergleichen wollen wir vergessen. Aber die Großtaten Gottes und der Gottesmutter, die in diesen Ereignissen aufleuchten, die können und dürfen wir nicht vergessen. Diese Haltung beeindruckte den Kardinal sehr.
Als Pater Kentenich nun an diesem 24. Dezember nach 14 Jahren wieder das Urheiligtum betreten und anschließend seine geistliche Familie in der Aula der Marienschule begrüßen konnte, gab es für ihn wiederum nur das eine Thema: Die Erbarmungen Gottes und der Gottesmutter, die in dieser Prüfungszeit so deutlich erfahrbar waren. In seiner Begrüßungsansprache erinnerte er an den heiligen Paulus, der sich fragte, warum Gott beim Volk Israel so viele Verirrungen zugelassen habe. „Und er findet dann letztlich die große, schöne, tiefschürfende Antwort: Damit er sich dieses seines Volkes umso mehr erbarmen könne“ (vgl. Röm 11,32).
Dieses Wort übertrug Pater Kentenich auf die zurückliegenden Jahre: Die Vaterliebe Gottes hat diese harten Prüfungen für ihn und seine Bewegung zugelassen, um Schönstatt tief und unverlierbar die Erfahrung einzuprägen, wie unendlich barmherzig Gott ist und dass hier – nicht in menschlicher Genialität – der feste Halt der Kirche und Schönstatts liegt.
„Alles ist Gnade“, hatte er einige Wochen vorher gesagt – am 17. September unmittelbar nach seiner Ankunft in Rom, als er sich fragte: Wie konnten wir das alles durchstehen?
Dieses Bewusstsein prägte Pater Kentenich in den knapp drei Lebensjahren, die ihm nach diesem 24. Dezember 1965 noch blieben, um sein Werk auszugründen. Immer neu kam er auf die zentrale Botschaft zurück, die er als Frucht der Prüfungsjahre wie ein Testament an seine geistliche Familie betrachtete:
Gott ist ein unendlich barmherziger Gott, und dieses „neue“ Gottesbild braucht der heutige Mensch, der sich vielfach so schwach und überfordert erlebt. Dieser Gotteserfahrung entspricht auch ein neues Menschenbild: Das ist der Mensch, der an seinen Grenzen und Erbärmlichkeiten nicht scheitert, sondern sich darin noch mehr auf Gott verlässt. Auch das Miteinander bekommt so eine neue Qualität: Das neue Bild der Kirche ist eine Gemeinschaft, die an Menschlichkeiten nicht scheitert, sondern sich noch mehr der Gnade Gottes öffnet. Es ist eine Gemeinschaft, wo die Güte und Barmherzigkeit Gottes auch den Beziehungen untereinander eine neue Qualität gibt.
Für die Schönstattbewegung ist es eine Bestärkung des Himmels, dass gerade jetzt, wo sie auf 50 Jahre der Heimkehr des Gründers zurückschaut, ein Heiliges Jahr der Barmherzigkeit beginnt. Das ist die Botschaft, die Pater Kentenich aus der 14jährigen Prüfungszeit mitbrachte, das ist es auch, wovon sie als Erfahrung ihrer Geschichte Zeugnis geben kann und will.
* Papst Pius X. änderte 1908 den Namen dieser Kongregation in „Heiliges Offizium“, Papst Paul VI. schließlich gab ihr im Dezember 1965 den heutigen Namen: Kongregation für die Glaubenslehre (auch „Glaubenskongregation“).